den menschen ganzheitlich verpflichtet

Zentraler Wert: Hospitalität

Hospitalität ist im deutschen Sprachraum ein unbekanntes Wort. Wir übersetzen es deshalb mit „gelebter Gastfreundschaft“. Im Jahr 2010 wurden zu unserem Zentralwert der Hospitalität vier Orientierungswerte formuliert, die zusammengefasst diesen Zentralwert ergeben. Weltweit wird in den Einrichtungen der Barmherzigen Brüder nach diesen Werten gehandelt und geplant.

Hospitalität birgt Rechte und Pflichten

Hospitalität ist zuallererst ein menschliches Beziehungsmuster, bei dem eine Seite Gastfreundschaft sucht (Gast) und eine andere Gastfreundschaft gewährt (Gastgeber). Diese Beziehung beinhaltet Rechte und Pflichten. Gast und Gastgeber stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Der Gast ist ein Abwesender, der jederzeit kommen und sein Gastrecht geltend machen kann. Wo Gastfreundschaft gepflegt wird, hat der Abwesende das Recht, empfangen zu werden, und der Gastgeber die Pflicht, ihn zu empfangen.

Warum gibt es Gastfreundschaft unter den Menschen? Diese Frage lässt sich nicht leicht beantworten. Klar ist, dass Gastfreundschaft nichts Mechanisches ist, denn der Gast kann wieder gehen bzw. der Gastgeber seine Gastfreundschaft aufkünden. Sie ist jedoch auch nicht willkürlich, weil ein Gastgeber sich gewöhnlich verpflichtet fühlt, den ankommenden Gast aufzunehmen, auch wenn er ihm ungelegen kommt.

Das wichtigste Kennzeichen der Hospitalität/Gastfreundschaft ist die Aufnahme und die Zuerkennung des Gaststatus an den Ankommenden von seiten des Gastgebers. Doch diese Anerkennung und Aufnahme trägt besondere Züge.

Universalität von Gastfreundschaft

Hospitalität/Gastfreundschaft ist grundsätzlich universal. Jeder Mensch kann Gast sein. Einen Menschen als Gast anzuerkennen bedeutet zu verstehen, dass alle Menschen ein potentielles Gastrecht haben. In diesem Sinn ist jeder Mensch auf dieser Welt ein potentieller Gast oder umgekehrt ein potentieller Gastgeber. In vielen Kulturkreisen ist es verboten, den Gast nach seiner Herkunft und

nach seinem Namen zu fragen. Diese Nicht-Nennung von Namen und Herkunft soll ein symbolisches Zeichen für das Abwesende sein. Der Schutz der Anonymität des Gastes bedeutet, dass wir in jedem Gast stellvertretend „alle“ Menschen sehen sollen. Den Fremden nicht nach seinem Namen, seiner Herkunft und seiner Abstammung zu fragen bedeutet nicht Desinteresse oder sogar Verachtung, sondern eine innere Bereitschaft, allen Menschen ohne Ansehen von Namen, Herkunft und Abstammung Gastfreundschaft zu gewähren.

Hospitalität/Gastfreundschaft ist ein moralisches und politisches Gütezeugnis, das dann gegeben ist, wenn der Gast nicht nur in seiner Eigenschaft als Individuum, sondern als ständiger Botschafter bzw. Vertreter anderer Menschengruppen, Gemeinschaften, Völker oder Nationen aufgenommen wird. Hier stellt uns die Hospitalität vor eine große ethische und politische Herausforderung, nämlich die der Aufnahme des Fremden, des Anderen, kurz, des Menschen, der nicht zu „den Meinen“ gehört. Hospitalität ist in diesem Sinne Anerkennung des Andersartigen: Wir akzeptieren, dass der Gast anders ist als wir, und vor allem lassen wir ihm die Freiheit, anders zu sein.

Heiligkeit von Gastfreundschaft

Hospitalität/Gastfreundschaft ist grundsätzlich heilig. Bei vielen Völkern ist der Fremde, der zu Gast kommt, von Geheimnis umgeben. Ihn umhüllt eine gewisse Heiligkeit. Der Gast könnte ein Gott sein. Dass das Göttliche zu den Menschen zu Gast kommt, ist sowohl in der griechischen Mythologie, als auch in der Bibel und bei vielen anderen Kulturen ein immer wiederkehrendes Thema. Das Göttliche, so heißt es, verkleidet sich gern bis zur Unkenntlichkeit, um in dieser Form die Menschen um Hilfe zu bitten. Im Brief an die Hebräer heißt es etwa, dass manche, ohne es zu wissen, Engel beherbergt haben (Hebr. 13,2). Auf diese Weise wurde das Gastrecht auf ein religiöses Fundament gestellt: Gehe mit Fremden so um, als ob Gott zu dir zu Besuch käme. Die Gestalt des Gastes erlangt so etwas Undefinierbares, das ihn zu einem Ort der Ungewissheit macht, an dem etwas Entscheidendes für uns auf dem Spiel steht. Etwas zugleich Furchteinflößendes und Anziehendes ist ihm zu eigen. Der Gast wird zum Vermittler zwischen zwei verschiedenen Sphären. Im Akt der Gastfreundschaft vollzieht sich die Begegnung zwischen zwei verschiedenen Ebenen: dem Göttlichen, Fernen, Unermesslichen sowie Unbegreiflichen und dem Menschen. Diese Begegnung kann wie ein gewaltsamer Einbruch sein, kann die bestehende Ordnung zerstören und Vertrautes entfremden.

Gastfreundschaft - ein einmaliges Ereignis

Hospitalität/Gastfreundschaft ist ein Ereignis. Sie ist weder vorhersehbar noch kontrollierbar. Wir wissen weder, wann sie von uns gefordert wird, noch von wem. Der Gastgeber muss immer bereit ein, denn zur undenkbarsten Stunde kann der Gast an seine Tür klopfen.

Hospitalität/Gastfreundschaft ist immer eine einmalige Begegnung und bringt stets die Sorge um einen ganz konkreten Menschen mit sich. Deswegen muss sie je nach den Eigenschaften und Erfordernissen von Gast und Gastgeber gestaltet und interpretiert werden. Die Rechte und Pflichten, die die Gastfreundschaft verlangt, haben zwar grundsätzlichen Charakter, spielen sich jedoch stets in einem fest umrissenen Horizont ab. So kann man etwa grundsätzlich bereit sein, die Verpflichtungen zu erfüllen, welche sich aus der Forderung ergeben, dass man für jeden Menschen unabhängig von seinen Eigenschaften Sorge tragen muss, weil er Teil der Menschheit ist. Doch diese Forderung tritt uns immer in der Gestalt eines ganz konkreten Menschen entgegen. Wenn also ein Gastgeber auf den universalen Gast warten würde, weil dieser seiner Meinung nach der einzige ist, der seine Gastfreundschaft verdient, und alle anderen Besucher, die an seine Tür klopfen, abweisen würde, weil keiner von ihnen vollauf seinen Menschlichkeitsgedanken erfüllt, würde Gastfreundschaft nie geschehen.